Im Alltag sind stereotype Vorstellungen unsere ständigen Begleiter, oft ganz unbemerkt. Sie beeinflussen, wie wir andere wahrnehmen, welche Fähigkeiten wir ihnen zutrauen und welche Berufe wir für „passend“ halten. Diese Muster wirken zwar subtil, aber nachhaltig. Gerade in der Berufsorientierung kann das bedeuten, dass insbesondere junge Menschen nicht nach ihren Stärken, sondern nach gesellschaftlichen Erwartungen entscheiden. Beim 25. Lunch & Learn der Vernetzungsstelle MY TURN bot Arzu Şahin, wissenschaftliche Fachreferentin bei der Servicestelle der Initiative Klischeefrei hierzu einen fachlichen Einstieg. Das Bündnis aus Bildung, Forschung und Wirtschaft, gefördert vom Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMBFSFJ), setzt sich für eine Berufswahl frei von Geschlechterklischees ein.
Şahin machte deutlich, dass sich die geschlechtliche Segregation am Arbeitsmarkt seit Jahren kaum verändert habe: Zwei Drittel der Berufe sind männlich dominiert, vor allem im Handwerk und in technischen Bereichen, während Frauen überdurchschnittlich häufig in Pflege- und Erziehungsberufen tätig sind. Nur rund jeder zehnte Beruf weist ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis auf.
Diese ungleiche Verteilung, so Şahin, beruhe auf tief verankerten gesellschaftlichen Vorstellungen von „typisch männlich“ und „typisch weiblich“. Sie beeinflussen von klein auf, was Jungen und Mädchen sich zutrauen und welche Wege sie sich vorstellen können. Das hat weitreichende Folgen: Wenn individuelle Stärken, Interessen und Talente unentdeckt bleiben, verliert nicht nur die einzelne Person ihre Entfaltungsmöglichkeiten, sondern auch die Gesellschaft verliert an Vielfalt und Innovationskraft.
Die Initiative Klischeefrei stellt daher vielfältige Materialien bereit, von Themendossiers und Faktenblättern bis hin zu E-Learning-Kursen, Methoden-Sets und interaktiven Formaten, um Fachkräfte im Beratungs- und Bildungsbereich dabei zu unterstützen, (eigene) stereotype Denkmuster zu reflektieren und klischeefrei zu beraten.
Diese Zielsetzung wird auch in den MY TURN Projekten verfolgt. Deutschlandweit unterstützen sie Frauen mit Migrationserfahrung dabei, ihre individuellen Potenziale zu entdecken und Berufswege zu erschließen, die ihren Fähigkeiten und Neigungen entsprechen. Immer wieder berichten die Projekte, dass Teilnehmerinnen bei der Berufswahl zunächst zu „typisch weiblichen“ Berufsfeldern tendieren oder ihnen solche Optionen von außen angetragen werden. Durch gezielte Begleitung und Empowerment, Reflexion der individuellen Kompetenzen und Wünsche, sowie durch authentische Vorbilder und vertrauensvolle Räume zum Ausprobieren können tradierte Rollenbilder aufgebrochen und die Teilnehmerinnen sensibilisiert werden für die eigenen Bedürfnisse.
Wie dies gelingen kann, zeigten zwei Beispiele aus der MY TURN-Praxis in Gießen und St. Wendel.
Praktisches Lernen gegen Klischees – Frauen stärken Selbstvertrauen bei einem Holzworkshop in Gießen
Wie sich stereotype Denkmuster im Beratungsalltag niedrigschwellig aufbrechen lassen, zeigte Frauke Voigt vom Projekt My Turn – Perspektive Beruf für Frauen mit Migrationsgeschichte der ZAUG gGmbH in Gießen.
In einem fünftägigen Holzworkshop arbeiteten neun Frauen jeweils im Tandem an individuellen Zickzack-Regalen. Ziel war nicht nur die Heranführung an die handwerkliche Tätigkeit selbst, sondern die Stärkung von Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit durch die praktische Erfahrung mit Werkzeug, Materialien und planerischem Vorgehen. Frauke Voigt, die den Workshop inhaltlich, pädagogisch sowie didaktisch konzipiert und ihn auch angeleitet hat, betonte, dass der Zugang zu diesen Tätigkeiten für viele der Frauen neu war, da handwerkliche und technische Fähigkeiten noch immer stark männlich konnotiert sind.
Frauke Voigt, selbst gelernte Schreinerin, zeigte mit ihrem Beitrag, wie Frauen durch authentische Vorbilder an bisher weniger vertraute Berufsfelder herangeführt werden können. Auch Arzu Şahin betonte, dass Frauen durch authentische Role Models besonders gut erkennen können, dass sie über die nötigen Fähigkeiten verfügen. Der Workshop bot damit einen niedrigschwelligen Impuls, um bestehende Denkmuster „quasi en passant“ zu hinterfragen, erklärte Voigt. Mehr zum Holzworkshop können Sie in diesem Artikel nachlesen.
Von der Schneiderei hinters Steuer – ein erfolgreicher Berufswechsel mit MY TURN in St. Wendel
Ramona Prinz, Projektleiterin vom Projekt neustart@wnd der Kommunalen Arbeitsförderung des Landkreises St. Wendel, zeigte anhand des Werdegangs einer Teilnehmerin, dass ein Wechsel aus einem in Deutschland eher „typisch weiblichen“ Beruf in ein neues, bisher eher untypisches Berufsfeld gelingen kann. Die Projektteilnehmerin hatte vor ihrer Flucht in Syrien als Schneiderin gearbeitet. In Deutschland kam sie mit dem Wunsch, Busfahrerin zu werden, in das Projekt. „Aus diesem konkreten Wunsch heraus haben wir gemeinsam mit ihr das Ziel entwickelt“, erklärte Prinz. Mit ihrer Beraterin wurden die erforderlichen Schritte geplant, um den Übergang in dieses neue Berufsfeld zu ermöglichen. Dabei spielten die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie die Bewältigung persönlicher und organisatorischer Hürden eine zentrale Rolle.
Auch Prinz bestätigte, wie wichtig positive Beispiele aus dem Umfeld der Teilnehmerin gewesen seien. Frauen, die bereits in diesem Beruf arbeiteten, hätten ihr gezeigt, „dass der Wunsch realistisch und erreichbar ist“. Letzte Unsicherheiten konnte das Projekt in Zusammenarbeit mit einem regionalen Busunternehmen ausräumen: Während einer betrieblichen Qualifizierungsphase erhielt die Teilnehmerin praxisnahe Einblicke in den Arbeitsalltag und konnte ihre Vorstellungen überprüfen.
Mit Unterstützung des Jobcenters absolvierte sie schließlich eine berufliche Weiterbildung zur Busfahrerin. Heute arbeitet sie in Vollzeit in ihrem neuen Beruf und trägt als Hauptverdienerin die Verantwortung für ihre Familie. „Das Beeindruckende ist“, so Prinz weiter, „dass sie nun für andere Teilnehmerinnen zum Vorbild wurde, denselben Weg einzuschlagen“. So stünden mehrere Frauen bereits in den Startlöchern, sich ebenfalls zur Busfahrerin weiterqualifizieren zu lassen.
Gemeinsame Verantwortung für Chancengleichheit
In der anschließenden Diskussion wurde deutlich: Geschlechtersensible und klischeefreie Beratung ist ein zentraler Aspekt des Empowerments, um Frauen zu ermutigen, eigene Interessen und Stärken zu erkennen und selbstbestimmte berufliche Entscheidungen zu treffen. Sie ist aber gleichzeitig nur ein Teil des Ganzen, denn echte Veränderung entsteht erst, wenn auch die strukturellen Rahmenbedingungen mitwachsen. Entscheidend, so die Rückmeldungen der Projekte, sind insbesondere passende Rahmenbedingungen in Betrieben: flexible Arbeitszeiten, familienfreundliche Modelle und eine offene Unternehmenskultur. Nur so können Frauen auch in bislang „untypischen“ Branchen Fuß fassen, denn sie bleiben in dem meisten Fällen die Hauptverantwortlichen für die Sorgearbeit in der Familie.
Auf dem Weg zu einer Berufswahl frei von geschlechtlichen Barrieren und hin zu wirklicher Chancengleichheit gilt es daher, dies als geteilten Auftrag – an Wirtschaft, Bildung, Beratung, Verwaltung und Politik - zu verstehen. Nur gemeinsam kann es gelingen, diese arbeitsmarktbezogenen Barrieren abzubauen und Potenziale sichtbar zu machen, und damit auch dem Fachkräftemangel adäquat zu begegnen.